Zeitliche Übersicht zu GOETHES SCHWEIZER REISEN
1. Reise
14. Mai bis 22. Juli 1775
2. Reise 12.
September 1779 bis 13.Januar 1780
3. Reise
30. Juli bis Ende November 1797
Auf der Rückreise von Italien
durchquerte Goethe zudem im Juni 1788 die Ostschweiz
vom Splügenpass bis
zum Bodensee.
Text: Goethes drei Reisen durch die Schweiz
von Robert Steiger
1775: Der
liebende Jüngling am Busen der Natur
1779: Reise zum
wahren Selbst
1797: Das
Labyrinth und der ordnende Dichter
Die insgesamt drei Reisen, die
Goethe in die Schweiz führten – in den Jahren 1775, 1779 und schließlich
1797 –, sowie seine zwei Reisen und Aufenthalte in Italien – 1786-88 und
1790 – sind für ihn keinesfalls vereinzelte Unternehmungen. Obwohl die
Lebenszeit von Johann Wolfgang Goethe noch in eine Epoche fiel, da das
Reisen mit großen körperlichen Strapazen verbunden war und insgesamt sicher
mit mehr Risiken behaftet als heutzutage, hat der Dichter von Jugend an
stets und bis ins höhere Alter einen starken Bewegungsdrang empfunden. Als
Student in Straßburg liebte er die heftigen Ausritte (etwa um die geliebte
Friederike Brion in Sesenheim zu besuchen), als junger Rechtsanwalt in der
Heimatstadt Frankfurt am Main begab er sich öfters zu Fuß auf den
Gewaltsmarsch nach Darmstadt und zurück, um seinen Freund Merck zu besuchen.
Später dann als Minister in Weimar nahm er seine Dienstpflichten sehr ernst,
und er bereiste das kleine Herzogtum bis in alle Winkel, weil er sich von
den Gegebenheiten nicht bloß durch das Aktenstudium, sondern wo immer
möglich auch durch persönliche Anschauung ein Bild machen wollte. Unzählige
Male ist Goethe von Weimar nach Jena geritten oder gefahren, um vor Ort die
Universität zu beaufsichtigen, mit den Professoren über Botanik, Chemie,
Philosophie zu diskutieren oder um ungestört zu dichten. Auch die vielen
Reisen nach Karlsbad zur Badekur gehören wesentlich zu Goethes Leben, zu
einem Menschen, dem – neben und als Ergänzung zur ein- für allemal
eingegangenen grundsätzlichen Treue zum Lebens-Ort Weimar – die
Ortsveränderung und die Begegnung mit fremden Landschaften und Menschen
konstitutiv war. Das Besteigen von Hügeln oder Bergen schließlich betrieb er
leidenschaftlich gern, um so neben der sportlichen Leistung noch ein zweites
Ziel zu erreichen: die Sicht von oben, welche die Landschaft erst wirklich
gliedert und einen organischen Zusammenhang von Geologie, Tektonik,
Wasserläufen und Vegetation dem Auge vermittelt. Analog dazu war Goethes
Drang nach unten: Er wollte nicht nur den Blick von hoch oben erleben,
sondern auch den Einblick in die Tiefen gewinnen – indem er in die
Bergwerksschächte hinabstieg, war er den verborgenen und vergangenen
Bildungskräften der Natur auf der Spur.
Und das ist es auch, was
wesentlich die drei Begegnungen Goethes mit der Schweiz prägt: seine Suche
nach dem großen Naturerlebnis, sein Wunsch, immer klarer und unverfälschter
– reiner – den ewigen Gesetzen der Natur durch direkteste, unvermittelte
Anschauung sich zu nähern. Oder, wie er es Faust aussprechen läßt: „Daß ich
erkenne, was die Welt / Im Innersten zusammenhält, / Schau’ alle
Wirkenskraft und Samen, / Und tu’ nicht mehr in Worten kramen. [...] Wo faß
ich dich, unendliche Natur?" (Faust. Eine Tragödie, Verse 382 ff.; 455)
Während freilich Faust in seinem titanischen Ungestüm durch alchemistische
Praktiken und mittels Geisterbeschwörungen und dann durch seinen Pakt mit
Mephistopheles gewaltsam hinter diese Geheimnisse zu kommen trachtet, betrat
Goethe selbst andere Wege, um zu diesem Ziel zu gelangen: einerseits im
geduldigsten, gleichsam demütigen Beobachten – davon zeugen auf
eindrückliche Weise seine Studien zur Geologie, Anatomie, Botanik, Licht-
und Farbenlehre, zur Gestalt der Wolken –, andererseits eben indem er sich
stets aufs neue auf die Reise machte. Der Gang nach Italiens Landschaften
mit ihrer mediterranen Heiterkeit oder in die Urgewalt der Schweizer
Bergwelt nimmt dabei einen besonders prominenten, weil folgenreichen
Stellenwert ein.
So hängen die Reisen in die Schweiz und nach Italien für
Goethe innerlich auf eine beinahe magische Weise zusammen, sie offenbaren
ihm gleichsam zwei grundlegende Polaritäten der Natur, getrennt und dann
doch zusammenwirkend und ineinander überfließend: Spannung und Entspannung,
Gedrängtheit und Weite, Kraft und Milde, Bedrohung und Heimat, Schroffheit
und unmerkliche Übergänge, Nebel und Sonnenklarheit. In symbolischer
Verkürzung sind diese Komplementaritäten im ergreifenden Gedicht Mignons
evoziert:
Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunkeln
Laub die Goldorangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,
Kennst du es wohl?
Dahin!
Dahin
Möcht’ ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!
[...]
Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?
Das Maultier sucht im
Nebel seinen Weg,
In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut,
Es stürzt
der Fels und über ihn die Flut:
Kennst du ihn wohl?
Dahin! Dahin
Geht unser Weg; o Vater, laß uns ziehn! (Wilhelm Meisters Lehrjahre,
III,1)
Als Goethe dieses Gedicht erstmals niederschrieb, 1782/83,
kannte er Italien noch nicht, die Schweiz hingegen war ihm bereits auf zwei
Reisen erlebte Gegenwart geworden – das Lied Mignons spricht, in wunderbarer
Verschmelzung von Wirklichkeitserfahrung und sehnsüchtiger Imagination,
Goethes seelische Befindlichkeit der Weimarer Jahre kurz vor seiner Flucht
nach Italien aus.
In diesem Horizont war die Schweiz für Goethe
zuallererst und auf faszinierende Art das Eine – das Land der Alpen: der
hohen Berge, tiefen Schluchten, wilden Wasserfälle und reinen Seen. Das
Land, wo sich einem die schaffende Urgewalt der Natur am unmittelbarsten
offenbarte, freilich auch zugleich ihre die menschliche Existenz bedrohende
Übermacht. Selbstverständlich hat er in Helvetien auch anderes gesucht und
gefunden – wir werden es gleich sehen, wenn wir uns mit ihm auf den Weg
machen und sozusagen im Zeitraffer die drei Reisen von 1775, 1779 und 1797
anhand von ausgewählten Originaldokumenten nachvollziehen –, aber achten
wir darauf, wie prägend für Goethes eigene Existenz und so für seine
dichterische Imaginationskraft das Erlebnis der Schweizer Landschaft wurde.
1775: Der liebende Jüngling am Busen der Natur
Anfang 1775: Goethe hat schon drei Jahre lang ziemlich widerwillig
seinen Anwaltsberuf ausgeübt; hülfe ihm nicht täglich sein Vater, der selbst
Jurist ist, so kämen seine Klienten kaum zu ihrem Recht ... Was Goethe mit
Leidenschaft tut, ist schreiben – Gedichte, Essays, Romane, Theaterstücke.
Aber davon kann er nicht leben, obwohl er durch seinen „Werther" beinahe
über Nacht europäischen Ruhm erlangt hat. Der muffigen Enge seiner
Vaterstadt Frankfurt überdrüssig geworden, weiß er doch nicht, wohin er denn
gehen könnte. In dieser ambivalenten, melancholischen Grundstimmung befindet
er sich, als er Lili Schönemann, eine reiche, erst siebzehnjährige
Bankierstochter, kennenlernt. „Sie hatte etwas Kindartiges in ihrem
Betragen, die Bewegungen [...] waren ungezwungen und leicht." (Dichtung und
Wahrheit, 16) Es ist – gegenseitige – Liebe auf den ersten Blick. Goethe,
der in diesen Jahren allen gesellschaftlichen Zwang hasst und flieht, ist
nun angehalten, sich in einem großbürgerlichen, recht versnobten, dem Geld
huldigenden Kreis zu bewegen, um das geliebte Mädchen sehen zu können.
„Notwendigkeit, mich in ihrem Zirkel einzufinden. Für mich eine große Qual.
[...] Beinahe unerträglicher gegenwärtiger Zustand. Unbezwingliches
Verlangen, sich einander zu nähern." (Paralipomenon zu Dichtung und
Wahrheit) So wechseln Momente des innigen gegenwärtigen Glücks mit solchen
des tiefen Zweifels in Bezug auf die gemeinsame Zukunft ab. Gegen Ostern
1775 verlobt sich Goethe mit Lili. Obwohl er stärker denn je spürt, dass ihm
ein Leben als gutbürgerlicher Anwalt, der seine Familie standesgemäß
ernähren kann, im Innersten zuwider ist. So drängt sich eine „Flucht" – eine
Denkpause aus räumlicher Distanz – auf; die Schweiz lockt in der Ferne.
Christian Graf Stolberg an seine Schwester Katharina: „[...] herrliche
Freuden, daß wir mit Goethen reisen. Es ist ein wilder, unbändiger, aber
sehr guter Junge. Voll Geist, voll Flamme." (17.5.1775; Goethes Gespräche,
Ausgabe von W. Herwig, GG 253)
Darmstadt, Mannheim, Heidelberg,
Karlsruhe, Straßburg. „Ob er [Goethe] mit uns geht, weiß ich nicht;
einesteils hat er große Lust, nach Italien zu gehen, zum andern zieht ihn
sein Herz nach Frankfurt zurück. Sonst ging’ er gern mit uns, zum wenigsten
nach Zürich, weil Lavater sein sehr großer Freund ist." (Stolberg an
Katharina, 31.5.1775; GG 257) 7. Juni in Schaffhausen, Goethe im Brief an
Johanna Fahlmer: „Gehe iezt aus den Rheinfall zu sehen [„mich in die grose
Idee einzuwickeln", an Johanna Fahlmer, 5.6.] [...] Könnt ich nur recht tief
in die Welt." „[...] vor dem Schaum stürmenden Sturze des gewaltigen Rheins
[...] wie vor jedem grosen Gedanken der Schöpfung, wird in der Seele reg was
auch Schöpfungskraft in ihr ist." (Dritte Wallfahrt nach Erwins Grabe)
Zürich: „[...] ich eilte zu Lavatern. Der Empfang war heiter und
herzlich [...] zutraulich, schonend, segnend, erhebend [...] Unsre nächste,
und fast ununterbrochene Unterhaltung war seine Physiognomik [...]"
(Dichtung und Wahrheit, 18) Die Gegenwart des um acht Jahre älteren
reformierten Zürcher Hauptpredigers – Goethe kennt ihn brieflich seit 1773,
im Sommer 1774 Lahn- und Rheinreise mit ihm – übt eine gleichsam
mesmerisierende Wirkung auf den Frankfurter Dichter aus, eine charismatische
Aura geht von ihm aus, die viele Berühmtheiten in ganz Europa in Lavaters
Bann schlägt. Es geht um psychologische Einfühlung, um sympathetisches
Mitempfinden, um die Ergründung der feinsten seelischen Regungen; ja,
Lavaters Ehrgeiz zielt dahin, ausgehend von den Eigenheiten des menschlichen
Antlitzes die Charaktereigenschaften ergründen zu wollen. Ein faszinierendes
Unterfangen, das den jungen Goethe ebenfalls lockt, aber letztlich doch
fragwürdig; diese Erkenntnis wird später einer der Gründe sein, die zur
Distanzierung von Lavater führen sollten. Noch aber ist die – gegenseitige –
Anziehungskraft ungebrochen. „[...] Goethe [der] Mann, der mit dem Grimm des
Tigers die Gutherzigkeit eines Lämmleins verbindet. Ich habe noch keinen
festern und keinen zugleich leitsamern Menschen gesehen." (Lavater an
Wieland, 8./9.11.1775; GG 269) „[...] indem er [Lavater] sich auf
physiognomischem Wege unsrer Eigenschaften bemächtigte, so war er in der
Unterredung Herr unsrer Gedanken" (Dichtung und Wahrheit, 19)
Eine
Ruderfahrt auf dem See in Richtung Alpenwelt zeigt Goethe erneut deutlich,
was er braucht, und auch wie kongenial der Suchende dem Gesuchten auf der
Spur ist. „Ich saug’ an meiner Nabelschnur / Nun Nahrung aus der Welt. / Und
herrlich rings ist die Natur, / Die mich am Busen hält." (Tagebuch der Reise
in die Schweiz, 15. Junius 1775, aufm Zürichersee)
Passavant, ein
Freund, den Goethe bei Lavater antrifft, tat „mir gleich den Vorschlag
[...], die kleinen Kantone zu besuchen, die er schon mit großem Entzücken
durchwandert habe" (Dichtung und Wahrheit, 18) Für den 26-jährigen Goethe,
der sich nun also anschickt in die Alpenwelt der Innerschweiz einzudringen,
ist es die erste Begegnung mit wirklichen Bergen. Was er in Frankfurt und
Hessen, in Leipzig und Sachsen, was er in Straßburg und im Elsass, was er in
Wetzlar und dem umliegenden Taunus und Westerwald insgesamt erlebt hat, sind
Ebenen, Hügellandschaften und Mittelgebirge – aber keinesfalls die Welt des
Hochgebirges: Ein neues, nie erlebtes Gefühl bemächtigt sich seiner – eine
Art von Trunkenheit angesichts der Absolutheit der Natur. „Abends [...] dem Schwizer Hocken gegenüber [...] den ersten nahen schnee. [...] Awfull. tiefe
tanne im Thal. – Nachts 10 in Schweiz [Schwyz]. Müd und munter vom Berg ab
springen voll Dursts und lachens. Gejauchtzt bis zwölf." (Reisetagebuch,
16.6.1775) Und dann der Aufstieg zum Gotthard: „[...] gebadet im Schnee
Wasser [der Reuß bei Amsteg] [...] aufwärts. allmächtig schröcklich. [...]
Noth und Müh und schweis. Teufelsbrücke [1728 über dem Abgrund errichtet]
[...] Sturmwind [...] Öde wie in Thale des Todts - mit Gebeinen besäet.
[...] Das mag das Drachen Thal genant werden." (Reisetagebuch,
20./21.6.1775) Hier also erfuhr Goethe die bedrohliche Engführung der
Naturgewalten, die er sieben Jahre später in Mignons Lied dichterisch
evozieren wird.
22. Juni: „Früh aufgestanden [Gotthard-Hospiz der
Kapuziner auf der Paßhöhe] [...] Ich hatte mich an den Fußpfad, der nach
Italien hinunterging, niedergelassen und zeichnete [...] Mein Gefährte trat
mutig zu mir [...] Geld haben wir genug, nach Mailand zu kommen [...] Ein
goldnes Herzchen, das ich in schönsten Stunden von ihr [Lili Schönemann]
erhalten hatte, hing [...] lieberwärmt an meinem Halse. Ich faßte es an und
küßte es [...] wendete mich, ohne ein Wort zu verlieren, dem Pfade zu, woher
wir gekommen waren. Etwas zaudernd folgte mir der Freund [...]" (Dichtung
und Wahrheit, 19) Verzicht also auf die Italienreise: die Gefühle für Lili
und wohl auch ein anderes Gefühl, nämlich dass die Zeit, die eigene
Lebenszeit, dafür noch nicht reif sei, sind stärker als die Lockungen nach
Süden.
„Scheideblick nach Italien", Zeichnung Goethes
von 1775
Mit Passavant kehrt Goethe nach Zürich zurück, wo er nochmals
Lavaters Gastfreundschaft erfährt, und von dort reist er nach Straßburg.
Hier, im Angesicht des schon früh bewunderten Münsters, zieht er in der
Niederschrift von „Dritte Wallfahrt nach Erwins Grabe im Juli 1775" eine
Bilanz seiner Befindlichkeit nach der Schweizer Reise: „[...] fühle ich,
Gott sey Dank, daß ich bin wie ich war, noch immer so kräftig, gerührt von
dem Grosen [von der Architektur des Münsters], und o Wonne, noch einziger,
ausschließender gerührt von dem Wahren [der Natur] [...] wird in der Seele
reeg was auch Schöpfungskraft in ihr ist. In Dichtung stammelt sie über
[...] Anbethung dem Schaffenden, ewiges Leben, umfassendes unauslöschliches
Gefühl des, das da ist und da war und da seyn wird." Die Begegnung mit der
Schweizer Landschaft – mit dem Rheinfall, dem Zürcher See, dem Gotthard –
hat die Seele des Dichters gestärkt: in ihrer Empfindungskraft und in ihrer
Fähigkeit, das Gefühlte poetisch wiederzugeben.
[...] in Frankfurt,
wohl empfangen von jedermann, auch von meinem Vater, ob dieser gleich seine
Mißbilligung, daß ich nicht [...] ihm meine Ankunft in Mailand gemeldet
habe, zwar nicht ausdrücklich aber stillschweigend merken ließ, besonders
auch keine Teilnahme an jenen wilden Felsen, Nebelseen und Drachennestern im
mindesten beweisen konnte." (Dichtung und Wahrheit, 19)
1779: Reise zum wahren Selbst
Stand die
Reise in die Schweiz von 1775 also biografisch unter den Vorzeichen der
„Flucht und Rückkehr" zu Lili Schönemann, war sie epochengeschichtlich
durchdrungen vom Zeitgeist des „Sturm und Drang" und der
„Werther"-Empfindsamkeit und brachte sie Goethe die erste überwältigende
Begegnung mit dem Rheinfall und dem Gotthardmassiv, so steht nun die zweite
Schweizerreise von 1779 unter gewandelten Auspizien.
Seit vier Jahren
in der kleinen Residenzstadt Weimar ansässig, als Minister in der Regierung
des Herzogs Carl August tätig, beglückt und doch auch gefangen in der Liebe
zur verheirateten Frau von Stein – „Ach, du warst in abgelebten Zeiten /
Meine Schwester oder meine Frau" schreibt er ihr schon 1776 –, Goethe also
sieht sich jetzt eingespannt in mannigfache Verpflichtungen. Jene, die ihm
am meisten am Herzen liegt, ist ohne Zweifel diese – dem um acht Jahre
jüngeren, also erst 22jährigen Carl August geistig und menschlich bei seinem
Heranreifen beizustehen, um ihn für seine schwierige Aufgabe als regierender
Herzog immer geeigneter zu machen. Diese Reise wird mithin unter dem
hochgesteckten Ziel der Bildung und Weiterentwicklung von Herzog und
Begleiter angetreten. Keine leichte Aufgabe für Goethe: als Mensch ist er
der Freund Carl Augusts, als Geheimrat ist er sein Untergebener, als
geistige Instanz ist er ihm weit überlegen.
Doch die Unternehmung
steht im eigentlichsten Sinne unter einem guten Stern, eine höhere Leitung
als das menschliche Wollen macht sich bemerkbar. Goethe und Carl August sind
bereit, auf diese Zeichen zu achten. „Den Abend unsrer Ankunft [in
Frankfurt] wurden wir von einem Feuerzeichen [Nordlicht] empfangen das wir
uns zum allerbesten deuteten. [...] Die Schweiz liegt vor uns und wir hoffen
mit Beystand des Himmels [...] unsre Geister im Erhabnen der Natur zu
baden." (Goethe an Frau v. Stein, 20.9. und 24.9.1779)
3. Oktober,
Abreise von Basel. „Durch den Rücken einer hohen und breiten Gebirgskette
hat die Birs [...] sich einen Weeg von uralters gesucht. [...]
Bald steigen an einander hängende Wände senkrecht auf, bald streichen
gewaltige Lagen schief nach dem Fluß und dem Weeg ein [...] Mir machte der
Zug durch diese Enge eine grosse ruhige Empfindung. Das Erhabene giebt der
Seele die schöne Ruhe, sie wird ganz dadurch ausgefüllt, fühlt sich so gros
als sie seyn kann und giebt ein reines Gefühl, wenn es bis gegen den Rand
steigt ohne überzulaufen. Mein Aug und meine Seele konnten die Gegenstände
fassen, und da ich rein war, diese Empfindung nirgends falsch wiedersties,
so wirkten sie was sie sollten. [...] Man fühlt tief, hier ist nichts
willkürliches, alles langsam bewegendes ewiges Gesez [...]" (Brief an Frau
v. Stein, 3.10.1779)
„Die merckwürdige Tour durch die Bernischen
Glätscher ist geendigt. [...] wenn er [Herzog Carl August] die böse Art
nicht hätte den Speck zu spicken, und wenn man auf dem Gipfel des Bergs mit
Müh und Gefahr ist, noch ein Stiegelgen ohne Zweck und Noth mit Müh und
Gefahr suchte [...] Ich bin auch einigemal unmutig in mir drüber geworden
[...] Wenn ich aber wieder sehe [...] wie er sonst von dieser Reise wahren
Nuzzen hat, ist alles wieder weg. Er hat gar eine gute Art von Aufpassen,
Theilnehmen, und Neugier [...] Von dem Gesange der Geister habe ich
wundersame Strophen gehört [wohl angesichts des Staubbachfalles, in
Lauterbrunnen] [...] Wind mischt vom Grund aus / Alle die Wogen. / Seele des
Menschen, / Wie gleichst du dem Wasser! / Schicksal des Menschen, / Wie
gleichst du dem Wind!" (Brief an Frau v. Stein, 14.10.1779) Goethe versteht
sich hier als Prinzenerzieher, indem er sich und den Herzog der Erfahrung
von Natur aussetzt, diese dann mit ihm reflektiert und sie so zur Anschauung
festigt. Was er Carl August nahebringen will, ist, dass der Mensch angesichts
des Erhabenen alles Willkürliche in sich ablegen sollte, um zum reinen,
beruhigten Gefühl seiner selbst zu gelangen.
Der Strahl des Wassers –
„Im flachen Bette / Schleicht er das Wiesental hin, / Und in dem glatten See
/ Weiden ihr Antlitz / Alle Gestirne." –, die Seele des Menschen brauchen
neben der Kontemplation auch die Herausforderung, die Schicksalserfahrung:
„Ragen Klippen / Dem Sturze entgegen, / Schäumt er unmutig / Stufenweise /
Zum Abgrund." (Gesang der Geister) Goethe spürt im Verlauf der Schweizer
Reise mit Carl August zunehmend, daß dieser, und auch er selbst, jener
zweiten Grunderfahrung bedarf, damit die Möglichkeiten, die Grenzen des
eigenen Selbst sichtbar werden.
„Morgen solls nach den Savoyer
Eisgebürgen und von da durch ins Wallis. [...] Etwas zu leiden sind wir
bereit, und wenn es möglich ist im Dezember auf den Brocken zu kommen [wie
Goethe am 10. Dezember 1777], so müssen auch Anfangs November uns diese
Pforten der Schröcknisse auch noch durchlassen." (Brief an Frau v. Stein,
2.11.1779) „Am liebsten gingen wir über die Furka auf den Gotthard [...] Wir
sind darüber ganz ruhig und hoffen von Augenblick zu Augenblick wie bisher
von den Umständen selbst guten Rat zu nehmen." (Briefe aus der Schweiz 1779)
„Fatale Ahndungen Erinnerung Enge böses Gefühl dass man im Sack stickt
Hoffnung und Vertraun." (Tagebuch, 11.11.79) „Der Ausgang wird entscheiden,
ob unser Mut und Zutrauen, daß es gehen müsse, oder die Klugheit einiger
Personen, die uns diesen Weg mit Gewalt widerraten wollen, recht behalten
wird. So viel ist gewiß, daß beide, Klugheit und Mut, das Glück über sich
erkennen müssen." (Briefe aus der Schweiz 1779)
Was Goethe sich und
dem herzoglichen Freund zumutet, ist zuerst eine Prüfung der eigenen
physischen und psychischen Kräfte, ein kalkuliertes Risiko. Kalkuliert, weil
nicht blindlings drauflos stürmend, sondern verantwortungsvoll abwägend:
„[...] ich hier schon wieder die Leute examiniert habe, ob sie glauben, daß
die Passage über die Furka offen ist; denn das ist der Gedanke mit dem ich
aufstehe, schlafen gehe, mit dem ich den ganzen Tag über beschäftigt bin."
(Briefe aus der Schweiz 1779) Risiko, weil ein Rest Ungewissheit bleiben
muss, ja bewusst gewünscht wird – „das Glück über sich", dessen letztgültige
Entscheidung gesucht und anerkannt wird. Ein Prüfen mithin also auch der
oberen Mächte: wieweit sie gewillt sind, einen zu tragen. Herausforderung
der Zeichen von oben, nichts weniger hatte der achtundzwanzigjährige, vom
Tode der geliebten Schwester Cornelia Verdüsterte, von der ambivalenten
Liebe Frau von Steins Verunsicherte an jenem Wintertag gesucht, als er den
Brocken bestieg – und er blieb nicht ohne Antwort damals: „[...] verlangte
von dem Geist des Himmels viel [...] (Brief an Frau v. Stein, 10.12.1778);
„[...] die übermütterliche Leitung zu meinen Wünschen. Das Ziel meines
Verlangens ist erreicht, es hängt an vielen Fäden, und viele Fäden hingen
davon, Sie wissen wie simbolisch mein Daseyn ist [...]" (Brief an Frau v.
Stein, 10.12.1777) Wird Goethe und mit ihm Carl August nun erneut eine
Antwort zuteil werden?
12. November: „[...] sanken in tiefen Schnee [...]
nach viertehalb Stunden Marsch kamen wir auf den Sattel der Furka an, beim
Kreuz wo sich Wallis und Uri scheiden [Furkapass, 2431 Meter über Meer] Es
kam ein Lämmergeier mit unglaublicher Schnelle über uns hergeflogen; er war
das einzige Lebende was wir in diesen Wüsten antrafen [„Dem Geier gleich, /
Der auf schweren Morgenwolken / Mit sanftem Fittich ruhend / Nach Beute
schaut, / Schwebe mein Lied. // Denn ein Gott hat / Jedem seine Bahn /
Vorgezeichnet ..." (Harzreise im Winter) ] [...] Die Träger, die eine große
Freude hatten, von unserer glücklich vollbrachten Expedition zu reden,
lobten unsere seltene Geschicklichkeit im Gehen, und versicherten, dab sie
es nicht mit einem jeden unternehmen würden." (Briefe aus der Schweiz 1779)
Die Antwort von oben ist auch diesmal nicht ausgeblieben.
13.
November: Brief an Frau v. Stein: „Zum zweitenmal bin ich nun [...] auf
dieser Höhe [Gotthardpass], ich sage nicht mit was für Gedancken. Auch iezt
reizt mich Italien nicht. Daß dem Herzog diese Reise nichts nüzzen würde
iezzo, daß es nicht gut wäre länger von Hause zu bleiben, daß ich Euch
wiedersehen werde, alles wendet mein Auge zum zweitenmal vom gelobten Lande
ab, ohne das zu sehen ich hoffentlich nicht sterben werde [...]"
In
Zürich erwartet zuletzt nach dem Natur-Erhabenen nun das Sittlich-Erhabene
auf die beiden: „Die Bekanntschafft von Lavatern ist für den Herzog und mich
was ich gehofft habe, Siegel und oberste Spizze der ganzen Reise [...] wenn
durch Abwesenheit sich die Idee von ihm verschwächt hat, wird man auf’ s
neue von seinem Wesen überrascht. Er ist der beste grösste weiseste innigste
aller sterblichen und unsterblichen Menschen die ich kenne." (Brief an Frau
v. Stein, etwa 22.11.1779)
„[...] diese Reise [...] wie gewiß eine neue
Epoche seines [Carl Augusts] und unsers Lebens sich davon anfängt. [...]
[in] seinen Gärten [...] dorthin an einem schönen Plaz mögt ich ihm ein
Monument [...] sezen [...] die Innschrifft: – Fortunae / Duci reduci /
natisque / Genio / et / Termino / ex Voto [Der Göttin des Glücks / bei
Ausreise und Heimkehr / und ihren Kindern / dem Genius / und / dem Terminus
/ dem Gelübde gemäß ] [...] den ganzen Weeg den wir machen begleitet von
einem guten Geiste [...] dass wenn ich zurücksehe wir, zu so manchem das
unsre reise ganz macht nicht durch unsern Wiz und Wollen geleitet worden
sind. [...] Das alles zusammen giebt uns eine Empfindung die ich nicht
schöner zu ehren weis als womit alle Zeiten durch die Menschen Gott verehrt
haben [...]" (Brief an Lavater, wohl 3./5.12.1779)
1797: Das Labyrinth und der ordnende Dichter
Achtzehn Jahre trennen die dritte von der zweiten Reise Goethes in die
Schweiz. Die Französische Revolution hat in der Zwischenzeit Europa
radikalster Änderung unterworfen. Und für Goethe liegt, in seiner eigenen
persönlichen Entwicklungsgeschichte, das Ur-Erlebnis Italien dazwischen.
1797, geschult durch die Rigorosität der italienischen Schule des
Beobachtens und inspiriert durch die Freundschaft mit Schiller, dem
Philosophen unter den Dichtern, verzeichnet Goethe in der Schweiz – nach
vorbereiteten Schemata – gewissenhaft unzählige Einzelheiten zu Volkssitte,
Landwirtschaft, Gewerbe und Handel; auf diese Weise ist er bemüht, sich ein
möglichst objektives und zugleich analytisches Bild des bereisten Landes und
seiner Bevölkerung zu erarbeiten. Teilweise nun zum drittenmal gelangt
Goethe an dieselben Orte, Gelegenheit für ihn, frühere Eindrücke und
Erkenntnisse vertiefend oder korrigierend zu überprüfen.
Ein Magnet
allererster Güte ist erneut der Rheinfall. Einen vollen Tag widmet der
Reisende seiner Beobachtung und viele Tagebuchseiten. 18. September, „Um 6 ½
Uhr ausgefahren [...] Der Dampf des Rheinfalls, den man recht gut
unterscheiden konnte, vermischte sich mit dem Nebel und stieg mit ihm auf. –
Gedanke an Ossian. Liebe zum Nebel bey heftig innern Empfindungen. [...]
Gewalt des Sturzes. Unerschöpfbarkeit als wie ein Unnachlassen der Kraft.
Zerstörung, Bleiben, Dauern, Bewegung, unmittelbare Ruhe nach dem Fall. – Beschränkung durch Mühlen drüben, durch einen Vorbau hüben; ja es war
möglich, die schönste Ansicht dieses herrlichen Natur-Phänomens wirklich zu
verschließen. [...] Bey längerer Betrachtung scheint die Bewegung
zuzunehmen. Das dauernde Ungeheuer[e] muß uns immer wachsend erscheinen; das
vollkommne muß uns erst stimmen und uns nach und nach zu sich hinaufheben.
[...] Wenn man sich die Quellen des Oceans dichten wollte, so müßte man sie
so darstellen. [...] Bey der Abendsonne [...] Wir fuhren näher an ihn hinan
[...] in dem [...] Gewühle war das Farbenspiel herrlich. [...] indem die
ungeheure Erscheinung immer sich selbst gleich blieb, fürchtete der
Zuschauer dem Übermaß zu unterliegen und erwartete als Mensch jeden
Augenblick eine Katastrophe."
Schon diese bruchstückhaften Zitate aus dem
Tagebuch machen deutlich, wie meisterhaft und vielschichtig hier beobachtet
und beschrieben wird: Der thematische Bogen reicht von der Natur am einen
Pol – der kritischen Feststellung, wie der Mensch diese zu zerstören sich
anschickt, den präzisen Schilderungen der verschiedensten Formen, die das
Wasser an diesem Ort des jähen Sturzes annehmen kann, und der kaum noch
fassbaren atmosphärischen Erscheinungen – zum beobachtenden Subjekt am
andern Pol: seinen persönlichsten Gefühlen und Erinnerungen wie auch dem
Bewusstwerden seiner existentiellen Befindlichkeit angesichts ihn weit
übersteigender Kräfte und Mächte.
Hier, in dieser äußersten Spannung,
die zur Katastrophe werden könnte, findet die Anschauung des Dichters den
ordnenden Ausgleich. „Von dem großen überströmten Felsen schien sich der
Regenbogen immerfort herabzuwälzen, indem er in dem Dunst des
herunterstürzenden Schaumes entstand. [...] Der Regenbogen erschien in
seiner größten Schönheit; er stand mit seinem ruhigen Fuß in dem ungeheuern
Gischt und Schaum, der, indem er ihn gewaltsam zu zerstören droht, ihn jeden
Augenblick neu hervorbringen muß. [...] Sicherheit neben der entsetzlichen
Gewalt." (Tagebuch) Das genauestens beobachtete Natur-Bild ist zugleich
poetisches Sinnbild. Im Auftakt des Zweiten Teils des „Faust" wird Goethe
später diese Rheinfall-Erfahrung evozieren und mit höchster Bedeutung
aufladen:
Der Wassersturz, das Felsenriff durchbrausend,
Ihn schau’ ich
an mit wachsendem Entzücken.
Von Sturz zu Sturzen wälzt er jetzt in
tausend,
Dann abertausend Strömen sich ergießend,
Hoch in die Lüfte
Schaum an Schäume sausend.
Allein wie herrlich, diesem Sturm ersprießend,
Wölbt sich des bunten Bogens Wechseldauer,
Bald rein gezeichnet, bald in
Luft zerfließend,
Umher verbreitend duftig kühle Schauer.
Der spiegelt
ab das menschliche Bestreben.
Ihm sinne nach, und du begreifst genauer:
Am farbigen Abglanz haben wir das Leben. (Verse 4716ff.)
[...] die
nahen Gebirge mir eine gewisse Unruhe gaben [...] sie zu besteigen. [...]
jene Erfahrungen zu wiederholen und zu rectificiren. Ich war ein anderer
Mensch geworden und also mußten mir die Gegenstände auch anders erscheinen."
(Brief an Schiller, 14.10.1797) Am 3. Oktober mit Freund Meyer von Hospental
„aufwärts. Glimmerschiefer mit vielem und schönen Quarz, den ersten Schnee
neben uns [...] ungeheuere ganz glatte Wände des blättrigen Granites. [...]
Wir nahten uns nun nach und nach dem Gipfel [des Gotthards]. Moor,
Glimmersand [...] Mineralienhandel der Köchin [im Hospiz], große Menge Adularien. Erzählung, wo sie solche hernimmt." (Tagebuch) „Tausendmal, ja
beständig habe ich mich erinnert da wir [Goethe und Carl August] diesen Weg
zusammen machten. Ich habe viel Freude gehabt diese Gegenstände wieder zu
sehen und mich in mehr als Einem Sinne an ihnen zu prüfen, meine mehrere
Kenntniß der Mineralogie war ein sehr angenehmes Hülfsmittel der
Unterhaltung." (Brief an Carl August, 17.10.1797) Nach dem Ort der schier
maßlosen Akzeleration und der flüchtigsten Erscheinungen, dem Rheinfall,
erlebt Goethe nun am Gotthardmassiv gleichsam das entgegengesetzte Extrem:
äußerste Verdichtung, Verformung und Überlagerung der Gesteinsschichten, das
Beharrungsvermögen des Gewordenen, das Jahrmillionen für Entwicklungen in
Anspruch nimmt. Die Gesteinskunde ist ihm hierin die erwünschte
ordnungsstiftende Erkenntnismethode.
Dichterische Inspiration
erwächst dem aufmerksamen Reisenden auch gleichsam aus der Landschaft selbst
mit ihren Menschen. „[...] sich [...] ein poetischer [Stoff] hervorgethan
hat [...] die Fabel vom Tell [...] episch behandeln [...] Das beschränkte
höchst bedeutende Local, worauf die Begebenheit spielt [am Vierwaldstätter
See], habe ich mir wieder recht genau vergegenwärtigt, so wie ich die
Charaktere, Sitten und Gebräuche der Menschen in diesen Gegenden [...]
beobachtet habe [...]" (Brief an Schiller, 14.10.1797) Dem Freunde wird
Goethe später die solchermaßen mit Anschauung angereicherte Fabel
überlassen: Schiller wird Wilhelm Tell aufs Theater bringen.
So ist
das Fazit dieser dritten (und letzten) Schweizer Reise für Goethe ein
durchaus positives, auch wenn die eigentlich beabsichtigte Weiterfahrt nach
Italien aus Rücksicht auf die geliebte Christiane und ihren gemeinsamen
achtjährigen Sohn August nicht stattfindet. „Bey der Leichtigkeit die
Gegenstände aufzunehmen, bin ich reich geworden ohne beladen zu seyn, der
Stoff incommodirt mich nicht, weil ich ihn gleich zu ordnen oder zu
verarbeiten weiß, und ich fühle mehr Freyheit als jemals, mannigfaltige
Formen zu wählen um das Verarbeitete für mich oder andere darzustellen. Von
den unfruchtbaren Gipfeln des Gotthards bis zu den herrlichen Kunstwerken,
welche Meyer mitgebracht hat [aus Italien], führt uns ein labyrinthischer
Spazierweg durch eine verwickelte Reihe von interessanten Gegenständen,
welche dieses sonderbare Land enthält. Sich durch’ s unmittelbare Anschauen
die naturhistorischen, geographischen, ökonomischen und politischen
Verhältnisse zu vergegenwärtigen, und sich dann durch eine alte Chronik die
vergangnen Zeiten näher zu bringen, auch sonst manchen Aufsatz der
arbeitsamen Schweizer zu nutzen, giebt, besonders bey der Umschriebenheit
der helvetischen Existenz, eine sehr angenehme Unterhaltung [...]" (Brief an
Schiller, 14.10.1797)
Es ist der klassische Goethe, der hier spricht,
seine Suche gilt überall der verborgenen Ordnung: diese will er im
Anschauen, im Beschreiben aufdecken oder gar stiften.
Erweiterte
Fassung eines Vortrages, gehalten am 9. September 1999 im Goethe Institut
Oslo. Veröffentlicht in: „Über die Grenzen Weimars hinaus – Goethes Werk in
europäischem Licht", hrsg. von Thomas Jung und Birgit Mühlhaus (= Osloer
Beiträge zur Germanistik 27), Frankfurt am Main 2000.
Zum
Autor:
Robert Steiger (*1949) hat von 1982 bis 1996 im Artemis
Verlag „Goethes Leben von Tag zu Tag. Eine dokumentarische Chronik" in 8
Bänden herausgegeben (in Zusammenarbeit mit Angelika Reimann); von 1995 bis
2013 arbeitete er als Senior Editor im Birkhäuser Verlag Basel. Robert Steiger
ist Vorstandsmitglied der Goethe-Gesellschaft Schweiz.
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